6. Europäisches Poesiefestival vom 4. bis 8. Mai 2013 in Frankfurt

Die Schirmherrschaft hat der Frankfurter Oberbürgermeister Peter Feldmann übernommen.

Am 4. Mai eröffnet das Europäische Poesiefestival

Die Eröffnungsrede von Claus-Peter Leonhardt

Mit großer Freude begrüße ich Sie hier in dem Quartier kultureller Vielfalt, dem Frankfurter Bahnhofsviertel im Schatten der Banken.

Heute weiß niemand, ob nicht Schatten-Poeten in ihren Zimmerfluchten sitzen. Kann es denn so etwas geben: Bank-Poeten? Ich meine ja. Unsere Jurisdiktion, Politik und Finanzwirtschaft sind große Erzählungen, deren Nutznießer Geschichten erfinden. Diese Wortschöpfungen erscheinen wie eine entgleisende Dichtung. Sie hat die Botschaft von Dante nie verstanden. Die Bank-Poeten schaffen nicht nur sieben Höllenkreise, und der greise Führer Vergil ist abhanden gekommen. Wir betreten die erzählten Räume, die urplötzlich reale Lebenszonen bilden, und erblicken die Folterinstrumente, ohne zu verstehen, warum sie für uns bestimmt sein sollen.

Es sind Schattenpoeten.

Aus ihren Geschichten klingt es uns noch – leise geflüstert – schallend in den Ohren: „Da sind schlechte Nachrichten, es geht euch doch gut.“ Wir durften in einem großen Auto vorfahren, die Kaste dieser Schatten-Poeten klatschte Beifall dem Volk, das ihre Privilegien garantiert. Immer noch opfert sich das Volk, wie so oft. Nur sind die Schützengräben nicht mehr mit Gas gefüllt, wie 1914 oder 1941. Heute ist es die Benebelung des möglichen Reichtums, das die Menschen hörig macht.

Die in den nächsten Tagen vorgestellte Poesie träumt anders. Ich würde sagen, dass ihre Welten realistischer sind, als die in Politik und Wirtschaft erzählten Geschichten. Poesie der Poeten erzeugt Wortklänge. Sie folgen dem Traum einer Zukunft, die nie gewesen ist. sie gibt Hoffnung, weil sie real von den Friktionen erzählt. Sie leidet und zeigt Wege.

Das sind die Träume, die gelebt werden wollen.

Diese Poesie wendet ein und führt dem denkenden Leser, der erkennenden Leserin zu Türen, die aus seinen Kerkern führen:

Auf dem festen Turm
der uneinnehmbaren Burg,
von wo man alles Übrige
überschauen kann. Ein kleines,
aber sicheres Reich,
zumindest solange
die Tür verschlossen ist.

sagt uns der Italiener Paolo Ruffilli. Seine Worte erklingen im Deutschen mit lutherischem Klang. So benennt er die solipsistische Seite des Menschen. Wie menschlich vertraut ist uns doch dieser Ton ist, der nur das EGO göttlich verehrt.

Aus dem Norden Europas antwortet eine finnische Stimme. Jouri Inkala formuliert gegen das Raunen der vielen Worte.

„Die Wahrheit ist ein einziger, sich weitender, im Wort sich vermindernder Zustand.“

Worte erhalten neue Kraft gegen ihren beliebigen Gebrauch.

In gemeinsam erzählten Geschichte entsteht Klarheit und Kraft, die bindend ein neues Zusammen erschaffen kann.

Es ist lärmende Belanglosigkeit der schlechten Erzählungen, welche das einbettende Netz zerreißt. Sie führt uns wieder weg von der bindenden Kraft des erzählenden Miteinander. Dagegen klingen die Worte der Poeten.

Wir sind wieder im Süden unseres Europas. Von dort ertönt eine Verzweiflung über diesen ruhelosen Lärmen und ruft auf, die eigene Verlorenheit erkennend, in Stille zu tauchen.

Casimiro de Brito erlebt die Poesie unhörbar im Lärm der werbenden Städte mit ihren allzuständigen Lockungen.

Vou na cidade e depois salto para dentro do texto.
Mas o texto expulsa-me e fico de
novo perdido no ruído da rua.

Bin in die Stadt gegangen und sprang unmittelbar zum Text.
Aber der Text vertrieb mich und so verlor
ich mich wieder im Lärmen der Straße.

Die flämische Stimme im Chor der europäischen Poeten fordert dem Leser das geduldige Herauslesen aus dem Text. Leonard Nolens untersucht das Wort genau in seinem Gedicht Dreiecksverhältnisse. Doch das Wort beschreibt keine Welt. Mehrdeutig sind die besungenen Verhältnisse, in denen das Ich sich im Du verlierend, sich erst im dann leeren Haus wiederbegegnet.

Wort, wie komme ich zu dir, ich der du immer bin?
Wie kannst du von mir weggehen, du der du mein Abschied bist,
Das nur schwach tröstende, aus tiefstem Herzen kommende Lebwohl
Das ich tagein tagaus meinem Tag sagen muß?

Du bist die letzte Brücke zwischen meinen zwei Abwesenheiten,
die schwindelerregende Tür, durch die ich mich den Menschen nähere
Und dieses Jahrhundert verlasse, dieses leere Haus voller Schreie.
Dann erst sind sie und du und ich auf immer beisammen.

Wer nach Hause kommt, kommt nicht an. Barbara Höhfeld läßt uns die Verlorenheit fühlen. Wohin wenden wir uns? Sind unsere Fragen überhaupt sinnvoll?

Gestern gegen Mitternacht kam ich heim. Ich wurde am Bahnhof mit einem Blumenstrauss abgeholt, ich kam „nach Hause“, ich schlief sehr gut in meinem eigenen Bett. Was fang ich nun an mit meinen Schatz an Erinnerungen, Erkenntnissen, Wissen, Beziehungen? Wie passt Bordeaux nach Frankfurt? Sind das Fragen, die man überhaupt versteht?

Lesend die Welt erfahren, ist keine Welt. Ganz anders als die Schatten-Poeten in den Banktürmen entwirft diese wirkliche Poesie, was sie nie einlösen wird. Erst die Leserinnen und Leser erschaffen aus dem Erdachten Möglichkeiten. Diese sind konstruktiv. So schafft Poesie Leben. Ihre unheimliche Schatten-Geschwister dekonstruieren die gleiche Welt. Sie sind wie schwarze Sonnen an einem trüben Himmel, zu dem so viele Menschen aufschauend ein besseres Leben sehnen.

Das Wort steht schwach dagegen. Es ist aber von langer Wirkung.

Diese Woche führt uns durch einen reichen Schatz an gemeinsamen poetischen Erfahrungen.

Eduardo De Filippos Arbeiten sind ernüchternd modern. Er hat das 20. Jahrhundert bis in die Mitte der Achtziger Jahre durchlebt. Es ist das bisher blutigste Jahrhundert der Menschheit gewesen. Seine Arbeiten geben einen Einblick in die Tiefen der menschlichen Seele, die er in den vielen Sprachen Italiens darzustellen gewußt hat.

Das Programm wurde wunderbar komponiert von Marcella Continanza. Es ist ein kleines Geschenk an diese Stadt, für das zu danken ist.

Das Sechste Europäische Festival der Poesie bringt die leisen Stimmen zum Klingen.

Europa ist ein Ort der Sehnsucht für viele Menschen. Als Europäer sehe ich die Friktionen meines Kontinents. So europäisch sind sicher viele hier. Eine dänische Großmutter, westfälische Wurzeln, polnische Vorfahren, hugenottische Handwerker. So bunt und vielfältig versammelt sich Europa in mir.

Ich liebe es und ich verzweifle an diesem buntgefleckten Land, das keines sein will.

So viele Sprachen, so viele Kulturen, die von den Nationen unterworfen wurden.

Europa gibt es nicht. Europa war immer eine Idee.

Wenn heute über eine Existenz zwischen kulturellen Identitäten und Sprachen gesprochen wird, taucht die Zuschreibung „Zwei“ auf. Damit wird Europa nicht erfaßt. Es sind überall Dreiecksverhältnisse zu finden.

In vielen Regionen ist es drei oder vier Kulturen und Sprachen, die formend auf die Menschen wirken. Dialekte sind Relikte alter Sprachen. Eine der europäischen Ideen ist eben auch die Unterwerfung von Kulturen. Nur wer das deutlich ausspricht, wird auch lernen, ein Europa der Kulturen in ihrer vielfältigen Wundersamkeit zu bauen. Bisher gilt das Diktat der Einheit, von den Römern erfunden, durch Karl den Großen brutal und blutig durchgesetzt und immer wieder in den kolonialen und faschistischen Alpträumen gelebt.

Ein modernes Europa wird einen vielsprachigen und vielfältigen Lebensraum bauen, oder es wird scheitern.

Geben wir dem Wort Raum. Lassen wir die Europäische Poesie erklingen.

In diesem Sinn wünsche ich dem sechsten Europäischen Poesiefestival viel Erfolg.
Ich begrüße sie nochmals herzlich

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