Einundzwanzigster. Montag. Nacht.
Im Nebel die Stadtsilhouette.
Da hat irgendein Nichtstuer ausgedacht,
dass es Liebe auf Erden gäbe.
Anna Achmatowa
Nur ein Wort? Medium!
Medium. Medienanthropologie. Natur. Nachhaltigkeit.
Keines dieser Worte ist wahr. So wie sie verwendet werden, zeugen sie von einer tiefgreifenden Realitätsverweigerung der Mehrzahl der Menschen. Menschen erkennen nur sich selbst, und sie meinen, dass ihre Kommunikation die Welt erschaffen würden.
Sie sind im Irrtum gebannt, wie Leute, die den breiten Strand genießen, bevor die Wellen des Tsunamis eintreffen. Zeugen der Denkweise des Menschen ohne Bewußtsein im Wahn, selbst zu denken. Menschsein bedeutet Drogenrausch.
Menschen sind nicht daran interessiert, Fragen zu stellen. An den Antworten weniger, wenn sie nicht selbst gegeben werden.
Daher lesen sie nur selten Geschichten, die zum Denken führen. Immer wieder ist nur das Gleiche gefragt. Bestätigung des eigenen kleinen Lebens. Feiern und Ablenkung.
Die Wirklichkeit ist: Medium ist ein Wort für die Beschreibung von Umfeldern. Medienanthropologie untersucht die Strukturen, die Mensch als Bestandteil einer eingeschränkten Lebenswelt zeigt.
Realitäten und Wirklichkeiten
Zwei Realitäten: Die Wohlhabenden und die Anderen. Die Wohlhabenden sind machtlos, denn ihre Rolle ist die gekaufter Verbraucher. Sie lieben ihren Wohlstand. Wer in Wohlstand lebt, meint selbst wertvoll zu sein. Die Anderen sind nichts. Sie stören, wenn sie auf der Straße sitzen oder mit Booten kommen. Sollten sie Glück haben, bilden sie zusätzliches Material für den Wohlstand als Hauspersonal, Bauarbeiter oder in der Prostitution.
Die Ausstellung in der Kunsthalle zeigt die Bilder des Elends. Das kleine Grisseln im Unterbauch flattert wie Schmetterlinge. Der beruhigende Gedanke dazu formuliert: So schlimm ist es nicht – nicht bei uns. Und sie gehen weiter.
Die Wirklichkeit ist anders: Frauen, denen die Füße auf öffentlichen Plätze weggezogen von fremdartigen Männern penetriert oder mit Säure übergossen oder 15jährig, grausam missbraucht in Bäume gehenkt; anderen Orts: die Klitoris aus dem Bauch gerissen. Wollte es jemand wissen, zählte er Millionen Frauen, die leiden.
Niemand will die Wirklichkeit erkennen. Die Realitäten lassen sich gut erzählen. Zerreißt das Maul, Meute.
Bauern, deren Vieh stirbt, weil Gas aus tiefen Gestein gepresst, Gifte nach oben treiben. Unzählbare indigene Leute, die einfach sterben, ihr Land geraubt, die Bäuche aufgeschlitzt oder einfach an Infektionen.
Kosten, die nicht in das Gewicht fallen, wie man auf den Märkten zu sagen pflegt. Das Feuilleton spricht dazu.
Geschichten, in Zeitschriften, Büchern, Fernsehen, Radio erzählt, klingen anders. Ereignisse bleiben abstrakt und fern. Dann gibt es noch die Institution des Ablasses in Form einer Spendenindustrie, und der Schönheit in Form von Reisen und Schönheitschirurgie,
Alltag ist fordernd, Beruf anstrengend, Kreuzfahrt erfüllend, Sportereignis verlangt alle Kräfte. Auspowern, die Herausforderungen annehmen. Ich werde es schaffen, meinen Platz finden.
Menschen erkennen nur das Naheliegende und die eigenen Leute. Leute sind egoman und auf ihren Vorteil bedacht. Seitdem das Denken öffentlich und als Disziplin betrieben wird, ist dieses bekannt.
Altes Wissen ohne Folgen.
Ein Faktum ist unbekannt. Diese Unfähigkeit erzeugt eine Gefahr. Wie bei vielen massiven Erkrankungen oder Mängeln zeigt sich die Schwere der tödlichen Gefahr nur in einem winzigen Symptom und dort am klarsten.
Im Gebrauch des Wörtchens Medium wird deutlich, dass Menschen dumm, wahnsinnig und völlig wirklichkeitsfremd handeln, nahe dem tierischen und durch die reife Intelligenz die eigenen Lebenswelten verformend.
Aber das Leben ist schön.
Ist die Katastrophe da, nützen Geschichten kaum und falsche Worte verhallen.


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